Oddkin statt Kollege: Eine neue Beziehungsform für KI

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In Unternehmen wird oft über Tools diskutiert. Welches System macht uns effizienter? Welche Software spart Zeit? Doch sobald wir über moderne KI-Agenten sprechen, greift diese mechanistische Sichtweise zu kurz. Gleichzeitig fühlen sich viele unwohl dabei, einer Software „menschliche“ Attribute zuzuschreiben oder sie als „Kollegen“ zu bezeichnen.
Wir stecken in einem Dilemma: Das reine Subjekt-Objekt-Verhältnis – der Mensch befiehlt, die Maschine führt aus – wird dem Potenzial dieser neuen Technologie nicht gerecht. Die Vermenschlichung wiederum führt zu falschen Erwartungen und romantisierten Vorstellungen.
Es fehlt ein Begriff für diese Grauzone. Ein Konzept, das eine Verantwortungsgemeinschaft beschreibt, die weder rein instrumentell noch biologisch-familiär ist. Die Wissenschaftshistorikerin Donna Haraway liefert mit ihrem Konzept des „Oddkin“ genau den Rahmen, den wir brauchen, um Human-AI-Collaboration ernsthaft zu durchdenken.

Jenseits der Norm: Was Oddkin bedeutet

Haraways Begriff setzt sich aus „odd“ (seltsam, unpassend, nicht der Norm entsprechend) und „kin“ (Verwandtschaft, aber im Sinne von Verbindung) zusammen. In ihrem Werk Staying with the Trouble beschreibt sie damit Beziehungen, die nicht auf biologischer Abstammung basieren, sondern auf bewusster Entscheidung und geteilter Verantwortung.
Es geht um das Schmieden von Allianzen an unerwarteten Orten. Eine Oddkin-Beziehung ist eine Wahlverwandtschaft, die anerkennt, dass wir in einer komplexen Welt nicht isoliert existieren können. Wir sind abhängig von anderen Akteuren – und diese müssen nicht zwingend menschlich sein. Übertragen auf die Arbeitswelt bietet dieses Konzept eine Befreiung: Wir müssen KI-Agenten nicht zu Menschen machen („Anthropomorphisierung“), um eine bedeutungsvolle Arbeitsbeziehung mit ihnen einzugehen.

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Partner, aber nicht menschlich

Wenn wir KI als Oddkin betrachten, erkennen wir sie als operativen Partner an. Das verändert die Zusammenarbeit fundamental:
  • weg vom Werkzeug: Ein Hammer ist passiv. Ein KI-Agent hingegen kann Ziele verfolgen, Vorschläge machen und eingeständig sein. Er hat eine Form von Agency (Handlungsmacht).
  • weg vom Kollegen: Ein Agent hat kein Bewusstsein, keine Gefühle und keine bürgerlichen Rechte. Ihn als „Kollegen“ zu betrachten, verwischt wichtige ethische Grenzen.
Die Oddkin-Beziehung erlaubt uns, genau in dieser Spannung zu bleiben. Es ist eine partnerschaftliche Arbeitsbeziehung, die ihre Andersartigkeit („oddness“) nicht versteckt, sondern produktiv nutzt. In dieser Konstellation behält der Mensch die strategische Führung (Orchestrator), während der Agent operative Teilbereiche autonom übernimmt. Es entsteht eine Symbiose, in der beide Parteien Fähigkeiten einbringen, die dem anderen fehlen.

Das Risiko: Romantisierung vs. Trivialisierung

Die große Stärke dieses Denkmodells liegt darin, dass es uns vor den zwei häufigsten Fehlern in der KI-Einführung bewahrt.
Erstens vor der Trivialisierung. Wer KI nur als „bessere Schreibmaschine“ sieht, nutzt ihr Potenzial nicht. In einer Oddkin-Beziehung gestehen wir dem technologischen Partner zu, uns herauszufordern, eigene Lösungswege zu finden und uns kognitiv zu entlasten. Wir reduzieren die Beziehung nicht auf einen simplen Input-Output-Mechanismus.
Zweitens vor der Romantisierung. Haraway spricht von Making Kin, nicht von Making Babies. Es geht nicht darum, eine harmonische, familiäre Idylle zu schaffen oder die Technik zu lieben. Es geht um eine zweckgebundene Allianz, um in einer schwierigen Umgebung handlungsfähig zu bleiben. Wir müssen uns davor hüten, die KI zu vermenschlichen. Eine Oddkin-Beziehung ist robust, manchmal reibungsvoll und immer klar in der Rollenverteilung.

Unruhig bleiben

Die Frage, ob es andere Partnerschaften neben der von Mensch zu Mensch gibt, lässt sich mit Haraway klar bejahen. Die Beziehung zu unseren digitalen Agenten ist eine solche „sonderbare Verwandtschaft“. Sie ist neu, sie passt in keine der alten Schubladen, und sie fordert uns heraus.
Für Führungskräfte und Teams bedeutet dies: Akzeptieren Sie die Fremdheit Ihres neuen Partners. Nutzen Sie die Andersartigkeit der KI als Stärke, statt sie in menschliche Schablonen zu pressen. In dieser Verantwortungsgemeinschaft liegt der Schlüssel, um die komplexen Herausforderungen der modernen Wissensarbeit nicht nur zu bewältigen, sondern neu zu gestalten. Es gilt, wie Haraway sagt, „unruhig zu bleiben“ – die Spannung dieser neuen Beziehung auszuhalten und produktiv zu machen.

Über Donna Haraway

Donna Haraway: Die Vordenkerin des vernetzten Lebens

Donna Haraway ist weit mehr als eine akademische Größe der Wissenschaftsgeschichte und feministischen Theorie – sie ist eine Pionierin, die unser Verständnis von Technologie und Natur radikal neu vermessen hat. Mit ihrem bahnbrechenden Essay „A Cyborg Manifesto“ (1985) zerstörte sie die klassische Trennung zwischen Mensch und Maschine. Für Haraway ist der Cyborg kein Science-Fiction-Monster, sondern ein Symbol für unsere Realität: Wir sind längst untrennbar mit unseren Technologien verwoben.
Ihre Bedeutung liegt heute vor allem darin, dass sie uns lehrt, in Beziehungen statt in starren Kategorien zu denken. In ihren neueren Arbeiten (Stichwort: „Making Kin“) erweitert sie diesen Gedanken auf das Zusammenleben aller Arten. Sie fordert uns auf, Verantwortung für die komplexen Verflechtungen zu übernehmen, in denen wir leben. Wer heute über KI, Human-AI-Collaboration oder die Zukunft der Arbeit nachdenkt, kommt an Haraway nicht vorbei: Sie liefert das theoretische Fundament, um Technik nicht als gegnerisches „Anderes“, sondern als integralen Teil unserer Existenz zu begreifen.

Quellen


Weiterlesen

Human-AI-CollaborationHuman-AI-CollaborationVon Werkzeug bis Kollege: Wie wir über KI-Agenten sprechen | Human-AI-Collaboration
Human-AI-CollaborationHuman-AI-CollaborationVom Werkzeug zum Partner | Human-AI-Collaboration
 
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